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ADHS bei Erwachsenen: Herausforderungen und Chancen in der Arbeitswelt

Aktualisiert am: 28.05.2025

ADHS bei Erwachsenen: Herausforderungen und Chancen in der Arbeitswelt

Ungefähr 3 – 6 % der Erwachsenen (J Glob Health 2021, 11.04009) leben mit AD(H)S – und doch bleibt dies bei Erwachsenen oft unerkannt.

In der modernen Arbeitswelt, die stark auf Produktivität, Effizienz und Organisation setzt, kann AD(H)S eine Herausforderung sein. Gleichzeitig bringen neurodivergente Menschen, also Personen deren Gehirn anders verknüpft ist als das der Mehrheit, wertvolle Fähigkeiten mit, die Unternehmen bereichern können. Doch damit dies gelingt, braucht es eine Arbeitsumgebung, die ihre Stärken fördert.

In diesem Blogartikel möchten wir einen Überblick bieten, warum Unternehmen sich mit dem Thema AD(H)S auseinandersetzen sollten, welche Herausforderungen es für Betroffene in der Arbeitswelt gibt, aber auch welche Chancen Neurodivergenz bietet.

1 Was ist AD(H)S?

Die Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Störung ist laut WHO eine sogenannte neurologische Entwicklungsstörung, die durch Schwierigkeiten in der Selbstregulation gekennzeichnet ist. Typische Symptome sind:

  • Probleme mit Aufmerksamkeit und Fokus
  • Impulsivität in Handlungen und Entscheidungen
  • Schwierigkeiten mit Organisation und Zeitmanagement
  • Emotionale Dysregulation bzw. starke Emotionen
  • Häufig hohe Sensibilität für äußere Reize

Bei Erwachsenen kann AD(H)S in zwei Hauptformen auftreten:

  • ADHS, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ:Starke innere oder körperliche Unruhe, Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeitsregulation, impulsives Handeln
  • ADHS, vorwiegend unaufmerksamer Typ: Verträumtheit, Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeitsregulation, impulsives Handeln (häufig ruhigeres Erscheinungsbild)

Dass ADHS häufig unerkannt bleibt, liegt unter anderem daran, dass noch immer stereotype oder veraltete Vorstellungen darüber kursieren – zum Beispiel das Bild vom zappeligen Jungen, der im Unterricht stört. Auch der Name selbst trägt zur Verwirrung bei: Bei ADHS geht es nicht um eine generelle Unfähigkeit, sich zu konzentrieren. Vielmehr fällt es Betroffenen schwer, ihre Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. Bei eintönigen oder wenig stimulierenden Aufgaben bricht die Konzentration oft schnell ab – während bei interessanten, emotionalen oder zeitkritischen Themen sogar das Gegenteil eintreten kann: ein Zustand intensiver Konzentration, der sogenannte Hyperfokus. Dieser kann zwar hilfreich sein, etwa wenn jemand stundenlang an einem Thema arbeitet – doch er birgt auch Risiken: Im Tunnelblick werden andere, eigentlich dringende Aufgaben leicht ausgeblendet, und es fällt schwer, sich selbst zu stoppen oder rechtzeitig umzuschalten.

Ein weiteres zentrales Merkmal ist die Impulsivität. Entscheidungen werden oft spontan getroffen, ohne die Konsequenzen abzuwägen – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil das „innere Stoppsignal“ häufig zu schwach oder verzögert einsetzt.

Die Hyperaktivität, die im Namen steckt, muss hingegen nicht immer sichtbar sein: Sie kann sich als innere Unruhe zeigen oder mit dem Alter auch deutlich abnehmen. Viele Erwachsene mit ADHS wirken nach außen ruhig – bei ihnen überwiegt häufig die verträumte, wenig impulsive Seite, weshalb in solchen Fällen auch von ADS gesprochen wird. Aus diesem Grund wird das „H“ in der Abkürzung oft in Klammern gesetzt: AD(H)S.

In der Arbeitswelt kann sich AD(H)S besonders stark auf die Produktivität und Zusammenarbeit auswirken – sowohl positiv als auch herausfordernd.

2 Warum ist das Thema AD(H)S am Arbeitsplatz wichtig?

Wie bereits erwähnt, haben Schätzungen zufolge etwa 3 – 6 % der Erwachsenen AD(H)S – viele von ihnen unerkannt. Da unsere Arbeitswelt stark auf Strukturen und Normen ausgelegt ist, können sich Betroffene oft „fehl am Platz“ oder unzureichend fühlen. Dabei bringen sie neben den Herausforderungen, die AD(H)S mit sich bringt, auch bemerkenswerte Stärken mit – Fähigkeiten, die in der heutigen Arbeits- und Lebenswelt von großer Bedeutung sein können.

Herausforderungen für Betroffene im Arbeitskontext:

  • Hoher Stress durch Reizüberflutung und Ablenkungen
  • Schwierigkeiten mit Routineaufgaben und eine Hassliebe zu Deadlines (es kommt oft vorher zu Nachtschichten und Hyperfokus, um Deadlines einzuhalten)
  • Geringes Selbstwertgefühl durch das Gefühl, „anders“ zu sein
  • Potenzial für Konflikte in Teams durch Impulsivität oder Unstrukturiertheit

Warum Unternehmen sich mit dem Thema beschäftigen sollten:

  • Neurodiversität kann Innovation fördern: Menschen mit AD(H)S bringen häufig eine ausgeprägte Kreativität und die Fähigkeit zu unkonventionellem, lösungsorientiertem Denken mit. Sie haben oft eine hohe emotionale Intelligenz, können andere begeistern und sehen Muster, wo andere eher Chaos sehen. Menschen mit AD(H)S sind gute Krisenmanager*innen, optimistisch und mutig.
  • Unterstützung führt zu besserer Performance: Mit der richtigen Umgebung können Betroffene ihre Stärken voll entfalten.
  • Attraktivität als Arbeitgeber stärken: Eine inklusive Unternehmenskultur schafft nicht nur ein wertschätzendes Arbeitsumfeld, sondern kann auch die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen.

3 Beispielhafte Herausforderungen und mögliche Lösungen für Menschen mit AD(H)S in der Arbeitswelt

AD(H)S hat klare Kriterien, in denen sich alle Menschen mit Diagnose ähneln. Gleichzeitig gibt es individuelle Unterschiede. Nicht alle Herausforderungen treffen auf alle zu und Lösungsideen sind niemals Allheilmittel. Im Folgenden werden einige Herausforderungen beispielhaft dargestellt und mögliche Hebel zur Lösung skizziert.

3.1 Zeitmanagement

Viele Menschen mit AD(H)S haben kein gutes Zeitgefühl und neigen zu einer zu optimistischen Planung. Das kann zu Überforderung bzw. Überlastung führen.

Hebel: Eine Kalenderrückschau mit regelmäßiger Reflexion („War meine Zeiteinteilung realistisch?“) hilft Planungskompetenz zu entwickeln. Eine kurze Abstimmungen oder Rückmeldungen zu Zeitaufwand und Prioritäten helfen bei der Orientierung und fördern realistischere Einschätzungen. Tools mit KI-gestützter Zeitschätzung können unterstützen, insbesondere bei wiederkehrenden Aufgaben. Ein einfaches visuelles Hilfsmittel (z.B. Tortendiagramm mit 12 Kuchenstücken = 12 Stunden) kann helfen, Zeiträume greifbarer zu machen und Überlastung vorzubeugen.

3.2 Konzentration in Großraumbüros

Ablenkungen sind für Menschen mit AD(H)S besonders schwer zu ignorieren. Sei es das Tippen der Kolleg:innen oder ständiger Small Talk – viele AD(H)S-Betroffene brauchen eine spezielle Umgebung, um produktiv zu sein. Andere können mit einer bestimmten Ablenkung wie Musik oder Trash-TV sehr gut arbeiten.

Hebel: Flexible Arbeitsorte (einigen hilft die Büroatmosphäre, anderen die Ruhe im Homeoffice), Noise-Cancelling-Kopfhörer oder die Erlaubnis während der Arbeit über Kopfhörer auch Musik zu hören.

3.3 AD(H)S-Paralyse

Viele Menschen mit AD(H)S beschreiben einen Zustand, der sich wie gelähmt anfühlt. Sie haben innerlich großen Stress und denken an alle ToDos, aber finden keinen Anfang. Oft braucht es extremen zeitlichen Druck, um den Anfang zu finden. So kommt es, dass viele kurz vor knapp Nachtschichten schieben, um die Deadline zu halten. Meist gelingt das, ist aber sehr kräftezehrend.

Hebel: Es kann helfen, Zwischen-Deadlines einzubauen und als Team Zwischenschritte zu besprechen. Außerdem hilft vielen Menschen mit AD(H)S das gemeinsame Arbeiten – auch bekannt als Body Doubling. Es gibt auch Seiten, die Menschen miteinander matchen, die beide eine Aufgabe haben, die sie nicht länger aufschieben wollen.

3.4 Impulsivität und emotionale Dysregulation

Ein Gehirn mit AD(H)S reagiert oft “aus dem Bauch heraus” und durchaus intensiver als andere. Das kann zu spontanen Entscheidungen oder intensiven Emotionen führen, die sich später als schwierig erweisen können. Dies kann zu Schuld- und Schamgefühlen oder Team-Konflikten führen.

Hebel: Klare Entscheidungshilfen (welche Projekte nehmen wir an? Was stimmen wir als Team ab?), Retrospektiven als Team oder Individuum, stärkenorientiertes Arbeiten mit verschiedenen Rollen in einem Projekt: vorsichtige und langfristig planende Menschen mit mutigen / spontanen Menschen mit AD(H)S zusammenarbeiten lassen.

3.5 Schwierigkeiten mit Routineaufgaben

Administrative Tätigkeiten, repetitive Prozesse und Bürokratie sind für viele Menschen mit AD(H)S schwer zu bewältigen.

Hebel: Gamification-Elemente (z. B. Challenges oder Belohnungssysteme), Unterstützung durch digitale Tools, Bodydoubling (s.o.), stärkenorientierte Aufgabenverteilung im Team

4 Chancen und Stärken von Menschen mit AD(H)S im Beruf

Trotz aller Herausforderungen bringen Menschen mit AD(H)S auch außergewöhnliche Fähigkeiten mit, die Unternehmen bereichern können:

  • Kreativität & neue Lösungsansätze
  • Hohe Energie & Begeisterungsfähigkeit
  • Problemlösungsfähigkeit & Flexibilität
  • Hyperfokus unter den richtigen Bedingungen

Unternehmen können von diesen Stärken profitieren, wenn sie entsprechende Rahmenbedingungen schaffen.

5 Wie Unternehmen eine unterstützende Arbeitsumgebung schaffen können

Ein erster wichtiger Schritt für Unternehmen ist es, sich aktiv mit dem Thema AD(H)S auseinanderzusetzen. Dies kann durch interne Sensibilisierung, Workshops oder den Austausch mit Expert:innen geschehen, um ein besseres Verständnis für die Herausforderungen und Potenziale neurodivergenter Mitarbeitender zu entwickeln.

Katrin Terwiel ist Wirtschaftspsychologin, Psychotherapeutin und Expertin für Neurodiversität in der Arbeitswelt. Mit praxisnahen Impulsen und Beratung unterstützt sie Unternehmen dabei, das Potenzial neurodivergenter Mitarbeitender besser zu verstehen und zu nutzen. Außerdem ist sie Co-Founder der DragonRiders, einem Coachingprogramm für Erwachsene mit AD(H)S.
Mehr erfahren auf: www.katrin-terwiel.de

Gleichzeitig ist es essenziell, mit betroffenen Mitarbeitenden offen ins Gespräch zu gehen und gemeinsam zu erörtern, welche Arbeitsbedingungen ihnen helfen, produktiv und gesund zu arbeiten. Transparente Kommunikation und individuelle Lösungen können dazu beitragen, eine unterstützende und wertschätzende Arbeitsumgebung zu schaffen, in der alle Mitarbeitenden ihr Potenzial entfalten können.

Darüber hinaus gibt es konkrete Maßnahmen, die Unternehmen ergreifen können, um die Arbeitsbedingungen für Menschen mit AD(H)S zu verbessern:

  • Flexible Arbeitsgestaltung ermöglichen

    Individuell anpassbare Arbeitsmodelle können Menschen mit AD(H)S dabei unterstützen, ihre Produktivität und Konzentration gezielt zu steuern. Flexible Arbeitszeiten, die Berücksichtigung von Fokus- und Erholungsphasen sowie die Möglichkeit, je nach Bedarf im Homeoffice oder in einer reizarmen Umgebung zu arbeiten, erleichtern es Betroffenen, ihr Potenzial bestmöglich auszuschöpfen. Ein offener Umgang mit unterschiedlichen Arbeitsweisen fördert zudem ein inklusives und leistungsförderndes Arbeitsumfeld.

  • Regelmäßige Zeitfenster für Organisation einplanen

    Ein bewusster Fokus auf Planung und Struktur kann dabei helfen, den Arbeitsalltag effizienter zu gestalten. Da es für Menschen mit AD(H)S oft herausfordernd ist, Aufgaben zu priorisieren und den Überblick zu behalten, kann es sinnvoll sein, regelmäßige Zeitfenster für Organisation und Strukturierung einzuplanen und miteinander zu besprechen. Hiervon profitiert das ganze Team und es kommt seltener zu Intransparenz und Rollenkonfusion.

  • Masking reduzieren

    Wer das Gefühl hat, nicht in gängige Muster zu passen oder anders zu funktionieren, erlebt oft Selbstzweifel, fühlt sich ungenügend oder versucht, sich anzupassen. Für Menschen mit AD(H)S kann dieses sogenannte „Masking“ enorm kräftezehrend sein. Wenn Unternehmen mit dem Thema Neurodivergenz proaktiv umgehen, sind Menschen mit AD(H)S weniger Vorurteilen ausgesetzt und sie können ihre Energie auf die Arbeit fokussieren, statt sich verstecken zu müssen.

  • Dopaminquellen nutzen

    Da das Dopaminsystem bei Menschen mit AD(H)S anders funktioniert, fällt es ihnen oft schwerer, Motivation aufrechtzuerhalten – besonders bei Aufgaben, die wenig unmittelbare Belohnung bieten. Motivation kann durch gezielte Maßnahmen wie Gamification-Elemente, Zwischen-Deadlines, Bodydoubling, kleine Belohnungssysteme oder abwechslungsreiche Aufgaben gesteigert werden.

  • Unterbrechungen reduzieren

    Häufige Unterbrechungen können es Menschen mit AD(H)S erschweren, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die ursprüngliche Aufgabe zu lenken. Um konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen, sollten Ablenkungen minimiert und klar definierte ungestörte Arbeitsphasen (z.B. gemeinsame Deep Work Phasen als Team) eingerichtet und sichtbar gemacht werden. Auch hier gilt: davon profitieren alle, denn Arbeitsunterbrechungen belasten nicht nur Menschen mit AD(H)S.

6 Fazit & Handlungsempfehlungen

AD(H)S in der Arbeitswelt ist eine Herausforderung – aber auch eine große Chance. Unternehmen, die sich mit den Chancen und Herausforderungen von Neurodivergenz in der Arbeitswelt beschäftigen, profitieren von einer innovativeren, vielfältigeren und produktiveren Belegschaft.

Indem Organisationen sich aktiv mit dem Thema auseinandersetzen, den Austausch mit Expert:innen suchen und mit Betroffenen offen kommunizieren, können sie eine Arbeitsumgebung schaffen, die sowohl den individuellen Bedürfnissen gerecht wird als auch das volle Potenzial neurodivergenter Mitarbeitender ausschöpft. Es geht nicht darum, Defizite auszugleichen, sondern vielmehr darum, unterschiedliche Stärken sinnvoll zu integrieren und so neue Perspektiven zu fördern.

Über die Co-Autorin
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Katrin Terwiel, einer Expertin für Neurodiversität in der Arbeitswelt. Katrin Terwiel ist Wirtschaftspsychologin und Psychotherapeutin. Nachdem sie früher eine eigene Praxis für Psychotherapie hatte, war sie Abteilungsleitung für Gesundheit & Anti-Diskriminierung bei Zalando und wechselte dann zur Deutschen Telekom. Dort war sie als HR Ressortleitung / Vice President Group Diversity Management tätig. Seit Frühjahr 2024 ist sie wieder selbstständig – als Consultant, Coach & Psychotherapeutin. Darüber hinaus ist sie Co-Host des Psychologie-Podcasts „DEEP SHIT TALKS“ und Co-Founder der DragonRiders GbR, einem Business-Coaching-Format für Erwachsene mit AD(H)S.

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